Das Anderssein der anderen
Eine mögliche Antwort: Weil wir fremdeln mit dem Fremden. Und wie im Säuglingsalter kann das Fremdeln sogar Panikreaktionen auslösen. Fremde Umgebung, fremde Menschen, fremdes Aussehen, fremdes Geschlecht, fremde Gewohnheiten, fremde Sprachen, fremde Vorstellungen von Gott und der Welt: Ich könnte eine ganze Seite füllen mit Fremdheiten, die Panik auslösen. Und also bleiben viele im Gelernten, Gewohnten gerne zuhause. Die Folge allzu oft ist Ausgrenzung oder mindestens Abgrenzung.
Der Ruf nach Respekt oder Toleranz vor dem Anderssein der anderen ist mir in diesem Zusammenhang viel zu klein gedacht. Respekt gefällt mir schon ganz gut, weil er mit Wertschätzung einhergeht, während Toleranz meist bei einem höflichen Ertragen stehen bleibt. Aber ich möchte mehr. Ich wähle den Ansatz, dass ja nicht nur die anderen anders sind, sondern dass ich mir bereits als Mensch schlechthin ein Fremder bin. Ich komme auf die Welt und bin nicht in der Lage, mich selbst zu verstehen. Ich erlebe mich angewiesen, bedürftig, ausgeliefert, im besten Fall angenommen, befriedigt und geborgen. Aber wer ich bin und wie ich mich zu mir und anderen stellen werde als Heranwachsender und Erwachsener, kann ich als kleines Kind weder begreifen noch erfassen. Die meisten Eltern tun im besten Falle intuitiv das Richtige. Sie nehmen ihr Kind an, wie es ist, und stillen die Bedürfnisse: Nähren, Kleiden, Beschützen, Hegen und Pflegen, Mahnen und Regeln, Lieben und Liebkosen.
Und wir selbst? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns im Laufe des Lebens ständig eingestehen, dass wir Fremdes in uns selbst entdecken. Fremdes, das meist keine Eindeutigkeiten kennt. Vermeintlich wachsen wir aus der Bedürftigkeit heraus und werden selbstständig und bleiben es doch, bedürftig. Wir erlernen Nationales, Religiöses und verorten uns gleichzeitig doch zeitweise oder dauerhaft in selbstgewählter Beheimatung, oft auch in vorherig Fremdem. Wir werden als Mann oder Frau geboren und erleben feminine und maskuline Züge des jeweils anderen. Wir leben Religion und erleben uns gläubig und ungläubig, je nach Zeit und Umständen. Die meisten erleben sich gesund, und das Kranksein macht uns selbst zu einem Fremden in uns selbst.
Ob wir uns selbst als fremdartig oder definiert durch natürliche Vielfalt begreifen, ob wir uns vor uns selbst ängstigen oder uns in unserer eigenen Fremdheit annehmen und uns selbst lieben lernen, entscheidet darüber, ob wir auch das Anderssein der anderen als befremdlich oder liebenswert begreifen werden. Ich entdecke jedenfalls immer neue Seiten an mir und freue mich darüber, wie ich mich freue, in der Verschiedenheit der Welt immer das Liebenswerte zu entdecken.
Autor und Sprecher: Prälat Michael H. F. Brock
Quelle: anstifter 1/2022