Zurück ins Leben
In der schwierigsten Phase meiner Krankheit habe ich eine Zeit lang nicht mehr an mich geglaubt und ich hatte mein Leben auch nicht mehr in der eigenen Hand. Ich weiß heute: Es war ein Lebenskampf an der Schwelle des Todes. Krankenschwestern, Pflegerinnen und Pfleger, Ärzte und Freunde haben den Kampf für mich gewonnen als ich nur noch Angst empfand: mein Delir – verwirrt – festgebunden ans Bett – schreiend voller Angst. Da haben schließlich jene die Oberhand behalten, die für mich ans Leben glaubten, mir den Schweiß von der Stirn wischten und an meinem Leben festhielten, als ich mich längst vor Angst aufgegeben hatte.
Die ersten Wochen erlebte ich im Koma und hatte keinerlei Zeitgefühl, auch keine Wahrnehmung für Menschen um mich herum. Aber was wäre gewesen, wenn sie nicht da gewesen wären. Zuerst am Telefon mit dem dringenden Rat, den Krankenwagen zu holen. Das Glück, dass in der Notaufnahme gerade nichts los war, das CT frei war und die Notoperation unverzüglich eingeleitet werden konnte. Für mich waren es wenige Tage in meiner Wahrnehmung. In Wirklichkeit waren es über fünf Wochen. Ich hatte Träume, Albträume, Angst. Ich empfand Verzweiflung und sah in den Abgrund. Menschen um mich herum sahen das Leben. Mein Gott, bin ich dankbar, dass es solche Menschen gibt, die sich dem Leben verschrieben haben, wo wir selbst nur noch dem Sterben ins Gesicht schauen. Ich bin vorsichtig mit großen Worten, schon immer gewesen, aber ich traue mich zu schreiben, dass ich eine Spur demütiger geworden bin in den letzten Monaten. Und dankbar.
Ja, die guten Wünsche, die ich hören durfte, lesen durfte, sie sind angekommen. „Nimm dir Zeit“, stand in einer Karte. Und ja, ich brauche Zeit. Ich kann schon wieder laufen, ich kann alles bewegen wie früher. Ja, Denken geht auch. Manchmal vergesse ich noch einiges, aber es geht immer besser mit der Zeit. Ob es wieder wird wie früher? Mit der gebotenen Demut sage ich heute: hoffentlich nicht! Das ewige Rennen, im Kreis. Überall dabei sein wollen. Alle Entscheidungen drei Mal prüfen. Heute weiß ich: Es geht auch ohne mich. Und das ist eine beruhigende Erkenntnis. Denn das bedeutet, wir haben gute Leute in Verantwortung. Gute Leute! Sie brauchen Führung, aber nicht jeden Tag. Und andere Menschen haben auch Ideen, gute Ideen. Ich muss nicht alles kontrollieren. Seit meiner Krankheit weiß ich, es ist nicht alles kontrollierbar. Vieles wird nicht durch mich bewirkt, vieles ist einfach Geschenk.
Ich habe auch den Rat bekommen, möglichst keine Schwäche zu zeigen. Ich solle einfach so lange wegbleiben, bis ich wieder „der Alte“ wäre. Aber, ich sprach schon darüber, das geht gar nicht und ist für mich auch nicht erstrebenswert. Warum soll ich verschweigen, dass alle Menschen, auch Führungskräfte, verletzbare Wesen sind. Es gibt nicht die Einteilung in Menschen, die Fürsorge brauchen, und andere, die sie durchgehend spenden könnten. Welch unmenschlicher Gedanke. Wir alle sind Menschen. Und auf eine Weise bin ich auch froh, mich schwach erlebt zu haben. Es bringt mich Menschen näher, die wie ich, schwach sind. Und es steigert nochmals mehr meinen Respekt für jene mir unbekannten Pflegerinnen und Pfleger, FSJler und Ärzte. Respekt und Dank für eure Hände, Gedanken, euer Dasein für mich, damit ich zurückfinden konnte ins Leben. Danke.
Hoffentlich kann ich ein wenig davon zurückgeben.
Autor: Prälat Michael H. F. Brock
gelesen von: Prof. Dr. Janina Loh
Quelle: Anstifter 2/2023
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