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Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD): Jeder Tropfen Alkohol in der Schwangerschaft schadet

Ravensburg – Unsichtbar, unterschätzt, lebenslang: Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD). Obwohl sie eine der häufigsten Behinderungen ist, ist FASD selbst bei Fachleuten kaum bekannt. In Deutschland werden jährlich bis zu 14000 Kinder geboren, die zeitlebens an FASD leiden. Der Grund dafür ist Alkoholkonsum der werdenden Mutter während der Schwangerschaft. Die FASD-Fachstelle der Stiftung Liebenau berät Betroffene, Angehörige und Fachkräfte. Sie ist eine von nur zwei Beratungsstellen in Baden-Württemberg.

FASD Beratungsgespräch

Per Video-Konferenz im Gespräch mit Klientin Sonja M.: Beate Braiger, Sozialarbeiterin bei der Arkade Ravensburg, und Michael Reiser von der FASD-Beratungsstelle der Stiftung Liebenau.

Michael Reiser von der FASD-Fachstelle im Gespräch

Michael Reiser von der FASD-Fachstelle der Stiftung Liebenau mit Sitz in Ravensburg.

Wichtigster Ausgangspunkt: die Diagnose

„Die Diagnose ist eine der wichtigsten Schutzfaktoren für Menschen mit FASD“, betont Michael Reiser, von der FASD-Fachstelle in Ravensburg. Die alkoholtoxischen Schädigungen des Gehirns verursachen kognitive Beeinträchtigungen wie Lern-, Merk- und Konzentrationsschwierigkeiten. In der Folge können Menschen mit FASD die Anforderungen der Umwelt oft nicht erfüllen. Sie sind ständig überfordert, haben ein hohes Dauerstresslevel, und sie reagieren darauf unter anderem mit Schmerzen, Depression, Übelkeit oder Angstzuständen. Die Umwelt tut sich schwer im Umgang mit der „unsichtbaren“ Behinderung. Zu den Einschränkungen kommt die Stigmatisierung.

 

Geringe Mengen Alkohol genügen schon

Schon geringster Alkoholkonsum der schwangeren Frau kann FASD verursachen. „FASD geht nicht weg, ist irreversibel“, verdeutlicht Reiser. Die Reaktionen der Betroffenen werden nicht selten psychologisch und psychiatrisch fehlinterpretiert, sind aber nicht die Ursache, sondern die Folge von FASD. Während bei Kindern und Jugendlichen FASD durch die regelmäßigen Untersuchungen und die medizinische Dokumentation von Geburt an gut feststellbar ist, ist die Diagnose bei Erwachsenen schwierig, da entsprechende Anhaltspunkte oft fehlen. In ganz Deutschland gibt es lediglich fünf Diagnosestellen: in Mannheim, Erlangen, Essen und zwei in Berlin.

 

Arbeiten: eine Herausforderung

Menschen mit FASD brauchen eine gänzlich andere Begleitung als zum Beispiel an Depression Erkrankte. Sie müssen sich Ruhe gönnen, sich den Einflüssen und dem Leistungsdruck der Umwelt entziehen, sich „runterregeln“ können. Für Michael Reiser ist klar: „Die Umgebung muss sich ihnen anpassen.“ Eine Forderung von Betroffenen ist daher auch eine höhere Fehlzeitentoleranz am Arbeitsplatz. Michael Reiser bietet auf Anfrage ein spezielles Screening bei einem Verdacht auf FASD bei Erwachsenen. „Das FASD-Screening für Erwachsene ist ein effizientes Instrument, mit dem Menschen mit FASD mit einer Wahrscheinlichkeit von über 90 Prozent erkannt werden können. So können Unterstützungsmöglichkeiten installiert und weiterer FASD-Diagnostikbedarf geprüft und angebahnt werden“, so der Experte. Erfahrungsgemäß ist eine eindeutige Diagnose durch eine Diagnosestelle für die meisten Betroffenen nach dem ersten Schock eine große Erleichterung, weil ihre Probleme im Alltag nicht länger als Charakterschwäche oder Verweigerung fehlinterpretiert werden, sondern als neurologisch bedingtes Symptom einer hirnorganischen Schädigung.

 

Im Kurs den Umgang mit Stresssituationen lernen

Reiser bietet auch einen Stress-Stopp-Kurs für Betroffene an, damit sie lernen mit schwierigen Situationen besser umgehen zu können. Die zehn Einheiten sind aufgeteilt in Gespräche mit den Betroffenen und - beziehungsweise oder - ihren Betreuenden. An sechs Terminen treffen sich Betroffene in einer kleinen Gruppe. „Allein sich auf andere Menschen einzulassen, ist für Betroffene schon schwierig.“ Sich zu treffen und auszutauschen, und nicht alleine mit der Behinderung zu sein, erziele eine positive Wirkung. Wenn es jemandem zu viel würde, könne er sich in den „Happy-Chair“ zurückziehen. Ohne Erklärung und ganz ohne Stress.

Portrait einer Klientin der FASD-Fachstelle

Sie kann sich sehr reflektiert, verständlich, ja eloquent ausdrücken. Doch ihr Leben glich bisher eher einer Berg- und Talfahrt. Sonja M. hat FASD (Fetale Alkoholspektrumstörungen), ausgelöst durch den Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft. Die Schädigungen des Gehirns durch den Alkohol verursachen lebenslang kognitive Beeinträchtigungen. Die Diagnose erhielt die 31-Jährige erst spät. Inzwischen lernt sie, besser mit den Einschränkungen umzugehen. Die FASD-Fachstelle der Stiftung Liebenau unterstützt sie dabei.

Stresslevel mit offenkundigen Folgen

Seit einem halben Jahr geht es Sonja M. (Name geändert) spürbar besser. Erleichterung verschafft ihr die Erwerbsminderungsrente, die sie seither erhält. Dadurch kann sie „mehr mit sich sein“, ist nicht mehr den für sie häufig zu hohen Anforderungen der Umwelt ausgesetzt. Zum Gespräch ist Sonja M. per Video zugeschaltet. Heute fühlt sie sich nicht wohl, hat Bauchschmerzen und Fieber. Ihr Leben ist geprägt von vielen guten Tagen, aber eben auch von schlechten Zeiten. „Ich kann extrem gestresst sein wegen Kleinigkeiten“, schildert sie. „Ich bin dann handlungsunfähig, wie gelähmt.“ Migräne, Kopfschmerzen, Übelkeit, depressive Verstimmungen gehören zu ihren Stressreaktionen.

 

Von Erfolg und Scheitern

Trotz der Einschränkungen durch FASD hat Sonja M. eine Ausbildung zur Hauswirtschaftshelferin am Berufsbildungswerk (BBW) in Ravensburg absolviert. „Ich hab’s ausgehalten, durchgehalten. Irgendwie“, sagt sie über den mühevollen Weg. Geprägt war auch diese Zeit von vielen Krankheitstagen. Im Grunde war es eine Fortsetzung der schwierigen Schulzeit mit mehreren Schulwechseln. Die Werkrealschule schloss sie aber durchaus mit gutem Ergebnis ab. Später musste sie etliche Arbeitsstellen aufgeben. „Solches Scheitern begleitet Menschen mit FASD fortwährend“, erklärt Michael Reiser von der FASD-Fachstelle der Stiftung Liebenau in Ravensburg. Die Umwelt tue sich oft schwer mit der „unsichtbaren“ Behinderung. Das schwer nachvollziehbare Verhalten werde oft als Charakterschwäche abgetan.

 

Ein Glück: die Pflegefamilie

Aufgewachsen ist Sonja M. ab ihrem zweiten Lebensjahr in einer Pflegefamilie, bei der sie sich sehr wohl und aufgehoben fühlte. „Zum Glück hat sie mich behalten“, sagt sie. Doch schon in der Kindheit zeigten sich erste Überforderungsreaktionen. Sie war öfter krank. Schon damals reagierte sie hochsensibel auf Geräusche. „Es fühlte sich manchmal an, als ob mir jemand eine Tonne Eisen um den Hals gehängt hätte“, gibt sie manchen Phasen in ihrem Leben ein Bild. Auf die inzwischen bekannte Behinderung ist noch niemand gekommen. Ihre Pflegemutter aber blieb hartnäckig bei der Ursachensuche: Erst vor etwa sieben Jahren stellte eine Ärztin die Diagnose FASD. Nach dem ersten Schock kam die Erleichterung. Und der kraftraubende Versuch, trotzdem am ersten Arbeitsmarkt zu bestehen, der dann in einer schweren Depression mündete.

 

Unterstützung hilft

Wahrscheinlich wird sie nie einer regulären Arbeit nachgehen können. Dennoch wirkt sie aufgeräumt. Die Rente hilft ihr finanziell, ihre Betreuerin von der Arkade Ravensburg und die FASD-Fachstelle unterstützen sie fachlich. Hilfreich ist für Sonja M. dabei auch der Stress-Stopp-Kurs der FASD-Fachstelle. In der Kleingruppe trifft sie auf Menschen, denen es ähnlich ergeht wie ihr. Gemeinsam lernen sie mit den Folgen der hirnorganischen Schädigung als Folge des mütterlichen Alkoholkonsums während der Schwangerschaft umzugehen.

 

Mut haben, darüber zu sprechen

An guten Tagen ist die junge Frau gerne unterwegs und mag es zu fotografieren. Außerdem sei sie offen für Menschen, sei empathisch, alles andere als oberflächlich und sie könne gut Gespräche führen. Möglichen Betroffenen empfiehlt Sonja M.: „Selber den Mut finden, mit Ärzten über die eigene Vorahnung zu sprechen. Auf sich und die Symptome hören und offen mit der Situation umgehen.“

 

 

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