„Dein Name in meiner Hand“
„Siehe, ich habe deinen Namen in meine Hand geschrieben“: Um dieses bildreiche Zitat des biblischen Propheten Jesaja rankte sich die Gedenkfeier, an der rund 80 Menschen teilnahmen. Auch sie waren eingeladen, ihre Namen zu nennen, während eine ausgeschnittene Papierhand herumgereicht wurde. „Wir alle tragen Namen, so wie die Opfer der Euthanasie“, erklärte Florian Müller vom Pastoralen Dienst der Stiftung Liebenau. Weitere Impulse gab seine Kollegin Manuela Gerster: „Wer sich an den Namen eines anderen erinnert, zeigt Wertschätzung und signalisiert Respekt und Anerkennung.“
Zarter Vorhang aus 501 Lebensfäden
Demensprechend war die Gedenkfeier von einer achtungsvollen Atmosphäre geprägt, von tiefgehenden Gedanken getragen und mit vielen Symbolen gestaltet. Schon beim Betreten der Kirche St. Maria in Liebenau trafen die Ankommenden auf einen zarten Vorhang aus 501 Fäden unterschiedlicher Länge. An jedem Faden befand sich eine Klammer, die mit einem Namen beschriftet war. Es handelte sich um die Namen der 501 Liebenauer „Euthanasie“-Opfer. Wie abrupt und gewaltsam ihre Lebensmelodie endete, brachte der Cellist Mikhail Antipov, teilweise an der Orgel begleitet vom 13-jährigen Samuel Balicki, eindrucksvoll zum Ausdruck: Immer wieder unterbrach er den Wohlklang der Musik und hielt für einen Moment inne.
Ein Überlebender berichtet
Mucksmäuschen still war es in dieser Gedenkfeier, als der 92-jährige Johann Rieg erzählte, wie er der Deportation entkam. Er war erst acht Jahre alt, als die berüchtigten grauen Busse kamen. „Ich bin in den Wald gegangen und habe mich dort versteckt“, berichtete er. Mutige Klosterschwestern hatten ihm geholfen, er blieb damals über Nacht verschwunden. Johann Rieg lebt noch heute in einer Einrichtung der Stiftung Liebenau, ebenso wie eine 98-Jährige Überlebende. „Schön, dass Sie noch unter uns sind“, sagte Florian Müller, was die Anwesenden mit herzlichem Applaus bestätigten.
Fünf Kurzbiografien von Opfern
Alle Opfer der „Euthanasie“ haben einen „bleibenden Ort im Gedächtnis unserer Stiftung“, bekräftigte Florian Müller. „Wenn wir heute ihre Namen nennen, geben wir ihnen ihre Würde und Identität wenigstens ein Stück weit zurück“, sagte er. Susanne Droste-Gräff, verantwortlich für die Gestaltung der Gedenktage in der Stiftung Liebenau, stellte exemplarisch fünf Kurzbiografien vor. Demnach war der 43-jährige Josef Ebenhoch im Ersten Weltkrieg in Kriegsgefangenschaft geraten und seither laut seiner Akte „geistig verändert“. Der achtjährige Paul Hofmann war ein pflegebedürftiges Kind „ohne Sprachentwicklung“. Die 75-jährige Agatha Bentele lebte aufgrund einer psychischen Erkrankung in Liebenau und wurde in den Aufzeichnungen als „harmlose, vergnügte und fleißige Person“ beschrieben. Der 20-jährige Karl Nessler war als Zweijähriger an einer Hirnhautentzündung erkrankt. Die 46-jährige Marie Wilhelmine Kempter hatte von Geburt an eine geistige Behinderung und lebte mit ihrem Sohn Baptist in Liebenau. Sie alle wurden innerhalb eines Dreivierteljahres deportiert und im „Euthanasie“-Wahn ermordet.
„Es darf nie wieder geschehen“
Es herrschte eine zutiefst ergriffene Atmosphäre, die der Cellist Mikhail Antipov erneut mit seiner einfühlsam vorgetragenen Musik auffing. Zum Schluss verwiesen mehrere Mitwirkende darauf, dass das Gedenken auch eine Bedeutung für die Gegenwart hat. „Es geht darum, sich einzusetzen, in Wort und Tat, dass so etwas nie wieder geschehen darf“, betonte Michael Wright, Vertrauensmann der Werkstatträte in der Stiftung Liebenau. Dazu zitierte er den unveränderbaren ersten Satz des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“