15 Episoden – davor und danach
Julia Kohler wählte für die Veranstaltung ein besonderes Format. Zum einen überließ sie es fünf Gästen per Los, welche Episoden sie lesen würde. Außerdem ermutigte sie das Publikum zum Dialog, was intensiv angenommen wurde. Erfahrungsgemäß sterben Menschen im Schnitt sieben Jahre nach der Diagnose Alzheimer. So auch die Mutter von Julia Kohler. „Sieben krasse Jahre“, schob sie nach. Doch auch die sieben Jahre „davor“ waren schlimm. Bis heute wisse sie nicht, welche Phase die schlimmere war.
Ihre 15 Kapitel teilte sie in „Davor“ und „Danach“, also die Zeit vor und nach der Diagnose, und beschreibt, wie sich die Krankheit nach und nach in das Leben der Mutter und folglich der gesamten Familie einschlich. Wie die Mutter aufhörte, Gastgeberin zu sein, was sie zeitlebens liebte. Sie beschrieb gleichzeitig ihr eigenes Gefühlschaos, als die Mama von sich aus das Autofahren, die geliebte Mobilität, aufgab, wenn sie nicht mehr liebevoll Plätzchen backte zu Weihnachten, wie sie es zuvor immer mit Hingabe tat. Irgendwann war das Lieblingsessen der Mutter fast ausschließlich Quark. Diese Eintönigkeit führte die Tochter auf Gleichgültigkeit und Desinteresse der Mutter zurück. Sie selbst fühlte sich oft beschämt, immer wieder wütend und auch ahnungslos.
Die Taktik der Seifenblase
Die ersten Anzeichen von Alzheimer zeigten sich bereits im Alter von ungefähr 60 Jahren. Ein Alter, in dem man noch nicht mit Alzheimer rechnet. Irgendwann habe sie die Mutter in eine Seifenblase gesteckt, um das „echte“ Leben so gut es ging von ihr fernzuhalten. Doch wäre es nicht viel leichter, wenn das Thema salonfähig wäre, wie ein verknackster Knöchel? So erfuhren die Gäste in den ausgewählten Episoden von der Einsamkeit der Tochter, wie die Mutter stetig die Worte verlor, mehr und mehr in Phrasen redete und irgendwann jeden Satz mit „Pipapo“ beendete. Sie hörten von der wiederkehrenden Wut, der diffusen Ahnung und dem schlechten Gewissen der Tochter. Die Gäste erlebten fast hautnah die ersten Anzeichen und die Diagnose Alzheimer, das Dahinsiechen und das Sterben der Mutter mit.
Publikum beteiligt sich sehr einfühlsam
Julia Kohlers Vater, der ebenfalls anwesend war, meinte im Rückblick: „Das Davor war für mich schlimmer als das Danach.“ Eine Frau aus dem Publikum schilderte die Erfahrungen mit ihrer erkrankten Tante, bei der die Krankheit früh bekannt war, was es für das Umfeld etwas leichter gemacht habe. Sie sagte aber auch: „Mir tut es um den Menschen selbst leid.“ Eine andere Frau aus dem Publikum schilderte ein Beispiel, bei dem das Umfeld eingeweiht war und sich rührend mit engagierte.
Die Anwesenden waren sich einig, dass jede Situation mit der Erkrankung eine ganz individuelle ist, und dankten der Autorin für ihre ungeschminkte Offenheit. Die Leiterin der Tagespflege im Franziskuszentrum, Verena Fischer, sprach Julia Kohler ebenfalls ihren Dank für die ergreifenden Worte aus. Sie wünsche sich auch, dass mehr über das Thema Alzheimer geredet und in der Öffentlichkeit bekannt wird. Außerdem ermunterte sie die Gäste bei Bedarf auf professionelle Hilfe zurückzugreifen.
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