„Ich habe mich

alleingelassen gefühlt!“

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Unter Pandemiebedingungen – das Haus der Pflege St. Johann in Tettnang

 

Das Haus der Pflege St. Johann liegt in einer ruhigen Wohngegend nahe der Innenstadt. Es verfügt über 81 Dauerpflegeplätze, Kurzzeit- und Tagespflegeplätze und Apartments des ServiceWohnens. Das Haus war in den vergangenen Wochen „unter Pandemiebedingungen“. Ein Interview mit Einrichtungsleiter Stefan Löffler (SL), Wohnbereichsleitung Birgitt Weiss (BW) und Pflegefachkraft Barbara Mühlsteff (BM).

 

Es sind doch einige Bewohnerinnen und Bewohnern gestorben - was macht das mit Ihnen?

 

SL: Es macht mich traurig, nachdenklich, weil ja, man baut Beziehungen zu seinen Bewohnern auf. Man kennt deren Vita, deren Vorlieben und Eigenheiten. Es sterben Menschen. Todeszahlen in den Pflegeeinrichtungen sind in und für die Öffentlichkeit so wichtig geworden. Wer denkt noch daran, dass hinter jeder Zahl ein Mensch „lebte“.

 

BM: Ich widme mich jedem einzelnen Sterbenden. Die Aufgabe der Sterbebegleitung nehme ich sehr ernst und sie ist mir wichtig. Mein Ritual bei den Sterbenden ist immer Ruhe, Körperkontakt und viel Zuneigung. Für mich ist es wichtig im Moment des Sterbeprozesses nicht nur für den Sterbenden, sondern auch für seine Angehörigen da zu sein. Mit und in Ruhe ebenso wie empathisch oder aber auch in beratender Funktion.

 

Herr Löffler, Sie tragen als Einrichtungsleiter die Verantwortung für die Bewohnerinnen und Bewohner, aber auch für Ihre Mitarbeitenden – wie gehen Sie damit um?

 

SL: Die Verantwortung ist riesig, wie ein riesengroßer und sehr schwerer Rucksack. Das kostet mich auch mal die eine oder andere Nacht. Ich würde hierzu die Angehörigen auch noch dazu zählen. Es ist sehr schwer und kostet viel Kraft, das Wohl und die Interessen aller im Blick zu behalten.

 

Wie ist die Atmosphäre im Haus, oder war?

 

BM: Sehr bedrückend. Corona regiert alles. Es gibt kein Leben mehr ohne Corona. Es verfolgt einen in alle Ecken, in jeder Schicht, von früh bis spät! Denn weder mit den Kolleginnen und Kollegen, noch mit den Bewohnern ist ja ein unbefangener Umgang möglich. Daher ist die Atmosphäre immer noch gereizt und angespannt. Man erwartet stets einen neuen Ausbruch.

 

Die Bewohnerinnen und Bewohner sind alle, so berichtet zumindest die Presse häufig, alleine gestorben, oder?

 

BW: Im St. Johann muss kein Bewohner alleine sterben! Angehörige dürfen in diesem Ausnahmefall zum Sterbenden. Auch das Pflegepersonal ist immer für sterbende Bewohner da und steht ihnen einfühlsam zur Seite. Ebenso findet durch das Betreuungsteam eine Sterbebegleitung statt, bei dem unter anderem Musik und Massagen mit Duftölen zum Einsatz kommen. Trotz Corona ist der Körperkontakt zum sterbenden Bewohner sehr wichtig.

 

Wie waren für Sie die letzten Wochen?

 

BM: Kräfte- und nervenzehrend!

 

BW: Zermürbend und echt kräftezehrend!

 

SL: Unglaublich anstrengend körperlich, psychisch und seelisch. Das macht einen kaputt. Vieles wird geschrieben, berichtet und beschlossen, aber bei uns vor Ort sieht es anders aus. Bewohner, die erkranken und sterben, Mitarbeiter die völlig erschöpft sind, trauernde, verständnisvolle und weniger verständnisvolle Angehörige und sehr viel Bürokratie. Etliche Telefongespräche und unter dem Strich: Viele Ratschläge, Empfehlungen, … Aber Hilfe vor Ort: Fehlanzeige. Ich habe mich allein gelassen gefühlt.

 

Was hat sie besonders (heraus-) gefordert?

 

BW: Die täglich neuen Maßnahmen, die SOFORT umgesetzt werden mussten. Täglich wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter positiv getestet und in Quarantäne geschickt. Die Dienste konnten kaum noch abgedeckt werden. Und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die noch negativ waren, haben gearbeitet bis zur völligen Erschöpfung.

 

Wie geht es Ihnen physisch und psychisch?

 

SL: Physisch langsam besser, da wir derzeit keine Corona-Fälle mehr im Haus haben. Psychisch: belastend! Ich konnte die vergangen Wochen noch nicht verarbeiten, da ich einfach funktioniert habe.

 

Haben Sie positive Erfahrungen in dieser Zeit gemacht, welche?

 

SL: Ja. Mein eigenes Einspringen in der Pflege fand ich super, wieder Teil des Pflegeteams zu sein. Die Begegnungen und Gespräche mit den Bewohnern waren sehr amüsant und die erstaunten Gesichter, dass der Chef zur Pflege kommt. Aber auch Gespräche mit dankbaren und verständnisvollen Angehörigen, die sich in meine/unsere Lage versetzt haben. Der Zusammenhalt unter den Mitarbeitenden. Sie sind eingesprungen, haben sich wirklich aufgeopfert und sind über ihre Grenzen gegangen. Das hat mich extrem beeindruckt.

 

BW: Eine positive Erfahrung ist, dass wir Mitarbeiter als Team noch mehr zusammengewachsen sind. Es hat uns gestärkt. Bewohner haben sich uns gegenüber mehr geöffnet, weil der Kontakt zu Angehörigen eingeschränkt war. Das hat Vertrauen gefördert. Das ist schön.

 

Warum sind sie Einrichtungsleiter, WBL, FK geworden?

 

BW: Der Pflegeberuf ist für mich Leidenschaft. Meine Teams unterstützen meine Arbeit als Wohnbereichsleitung und bringen mir großen Respekt entgegen. Ich finde es sehr spannend mit so vielen verschiedenen Charakteren zusammen zu arbeiten. Ich bin sehr stolz auf meine Teams! Das alles macht meine Arbeit aus und es macht mir Spaß.

 

SL: Ich bin Einrichtungsleiter geworden, weil ich aus der Altenpflege komme und gerne mit Menschen arbeite. Ich war Zivi, Altenpfleger, habe Pflegemanagement und Management im Gesundheitswesen studiert und bin nun Einrichtungsleiter. Mich reizen an der Position der Perspektivwechsel und die vielseitigen Aufgabenfelder.

 

Die Leidenschaft und Freude in und an Ihrer Arbeit?

 

BW: Die Bewohner und ihre Familien. Sie sind für uns auch Familie. Gerade weil sie nicht nur kurz da sind. Sie leben bei uns, mit uns. Es gibt eine familiäre Atmosphäre. Die Kontakte zu den Angehörigen unserer Bewohner werden mit der Zeit persönlicher. Es ist ein Begegnen auf Augenhöhe. Es funktioniert nur miteinander.

 

Wie finden Sie wird Ihre Arbeit in der Gesellschaft wahrgenommen – Vergleich vor und mit Corona?

 

SL: Wir in der Pflege haben keine Lobby, das ist das Hauptproblem. Es setzt sich niemand für uns ein und die Corona Krise zeigt, dass mit uns alles gemacht werden kann. Besuchsbestimmungen, Bürokratie, Testungen, alles auf dem Rücken der Mitarbeitenden vor Ort. Das Standing der Pflege ist schlecht. Bei Altenpfleger denkt man an negative Klischees, wie geringe Bezahlung und schlechte Arbeitszeiten. Da hat sich auch durch Corona nichts geändert.

 

BW: Wahrgenommen im Sinne von, es gibt Menschen, die in der Pflege arbeiten, ja. Aber sonst fühlen wir uns weder wertgeschätzt noch ernstgenommen. Egal, ob mit oder ohne Corona. Die Pflege ist abgeschrieben. Wahrscheinlich müssten wir unsere Arbeit mal niederlegen…

 

Wie sehen die Reaktionen der Angehörigen in diesen „Corona-Zeiten“ aus?

 

SL: Sehr viele Angehörige haben aus meiner Sicht Verständnis für die eingeschränkten Besuchszeiten und die internen Maßnahmen. Jedoch gehen einige auch unvorsichtig und unvernünftig vor. Dies erschwert unsere Arbeit enorm und gefährdet die Gesundheit aller in der Einrichtung. Es gibt auch Angehörige die „allwissend“ sind, da frage ich mich schon, warum ich Einrichtungsleiter bin und nicht die. (Lacht) Es ist für alle neu, Behörden, Angehörige, uns, da ist gegenseitiges Verständnis und auch Nachsicht entscheidend.

 

BW: Viele Angehörige zeigen Mitgefühl und Verständnis. Die Zusammenarbeit gestaltet sich als unkompliziert und kooperativ. Wir bekommen selbstgebackenen Kuchen und nette Briefe. Aber einige sind leider verständnislos. Auch Beschimpfungen und Drohungen müssen wir uns anhören, als hätten wir die Bestimmungen für unser Haus gemacht.

 

Wie blicken Sie in die Zukunft?

 

BM: Düster! Denn wenn ich in die Pflegebedürftigkeit komme, wer versorgt mich?

 

BW: Mit gemischten Gefühlen. Beruflich bin ich pessimistisch, ob sich jemals etwas ändert. Privat habe ich Angst vor dem Alter. Was wohl mal aus uns wird? Wer uns mal betreut und pflegt?

 

Zusätzliche Aspekte von Ihnen?

 

SL: Aspekte: Viele Bewohner sind unglaublich dankbar für die geleistete Arbeit der Mitarbeiter. Die Bewohner haben extrem viel Einschränkungen einstecken müssen, dafür ein riesiges Dankeschön. Trotzdem wurden Sie gut versorgt, nicht wie in der Presse dargestellt!